Annette Riemann: Into the Unknown

Freiheit ist etwas Verunsicherndes. Auf der einen Seite ist da das menschliche Bedürfnis nach einer klar definierten Realität - einer Welt mit geregelten Verhältnissen, basierend auf gesicherten Erfahrungen, als richtig erwiesenen Erkenntnissen, mit geklärten Perspektiven auf die Zukunft. "Man kann leicht verstehen, warum Menschen dazu neigen, die Botschaft ihrer Träume zu ignorieren oder sogar abzulehnen. Das Bewusstsein widerstrebt von Natur aus allem Unbewussten und Unbekannten“, formulierte einst der Schweizer Psychologe Carl Gustav Jung.

Das bedeutet im Umkehrschluss: Um sich auf den Weg ins Unbekannte zu machen, braucht es mindestens Offenheit, Mut zum Risiko, Neugier und die Bereitschaft, bestehende Denkmodelle und Weltsichten in Frage zu stellen. Die Arbeiten Annette Riemanns sind - trotz oder gerade wegen ihrer bildnerischen „Schönheit“ - Ausdruck des leidenschaftlichen Haderns mit einer Gegenwart, die sie als einengend und in ihren Dimensionen begrenzt empfindet.

Vordergründig oft als eine Variante von Landschaftsmalerei interpretiert, leiten ihre Werke den Blick auf das Dahinterliegende, das der Wahrnehmung entzogen ist. „Floating and Drifting“, „Beyond the Horizon“, „Forever and Ever“ - die Titel ihrer Shows der letzten Jahre scheinen entlehnt aus der Sprache der utopiegeprägten Space Art der 60er und 70er Jahre. Dabei sind sie trügerisch, sie sind ein Mittel zum Zweck. Sie locken mit Bekanntem, Vertrautem, um zur Überwindung genau dessen einzuladen.

Dabei geht es um Phantasie, eines der Grundthemen der Kunst. Es geht um den Blick über bestehende, bekannte Wahrnehmungszusammenhänge hinaus. Die  Zukunft ist offen und nicht nur eine planbare Projektionsfläche für bestehende Ansprüche. Sie bietet Raum für Utopie, für das Mögliche, das Undenkbare und auch das Unendliche.

Aus dem 19. Jahrhundert stammt der Begriff der Hyperräume. In der Mathematik kamen zu dieser Zeit erstmals abstrakte Raumbegriffe auf, die über den traditionellen dreidimensionalen Anschauungsraum hinausgingen. Der Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit solchen exotischen Räumen geht zurück auf den Mathematiker und Namensvetter Bernhard Riemann. Er stellte im Jahr 1854 eine radikal neue Geometrie gekrümmter beliebig-dimensionaler Räume vor, womit er zum Wegbereiter von Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie wurde. Inzwischen sind sowohl ein Kleinplanet im Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter als auch ein Mondkrater nach ihm benannt.

Hyperraum - das ist ein Wort, das unendliche Freiheit suggeriert. Was Bernhard Riemann einst errechnete, ist auch das große Thema in Annette Riemanns gegenwärtiger künstlerischer Arbeit. Ist das Zufall? Möglich…

Erwähnt seien hier die von ihr bearbeiteten ikonischen Fotografien der ersten Mondlandung 1969, Symbole utopischen Denkens früherer Jahre. Sie sind Dokumente für den Traum der Eroberung neuer Welten, den Riemann auf verschiedene Weisen sichtbar und fühlbar macht. Sie treibt ein Spiel mit eingeführten, „gesicherten“ Sehnsuchts-Symbolen.

In der Malerei mit Farbpigmenten auf belichtetem Fotopapier beispielsweise tauchen Horizonte als Synonyme für bodenlose Sehnsucht nach Alternativem, Neuem, Unversuchtem auf. Dabei überlagern sich die Wahrnehmungsebenen. Es entstehen Scheinräume vor und hinter der papierdünnen Oberfläche, in der sich der Betrachter reflektiert. Doch nicht einmal Perspektive, Richtung und Horizontlinie sind dabei unverrückbar und eindeutig.

Möglichkeitsräume finden sich auch in den inszenierten quasi-paradiesischen Strandhaus-Objekten, in deren Zentrum die tragische, sehnsuchtsgeladene Figur des „Silver Surfers“ steht. Dieser Comic-Superheld der späten 60er Jahre kann sich dank kosmischer Kräfte nahezu mit Lichtgeschwindigkeit bewegen und sowohl der Sonne als auch dem Hyperraum widerstehen. Er besitzt also Fähigkeiten, die es ihm ermöglichen, sich selbst in vom Menschen bisher nicht erfassten Dimensionen zu bewegen. Er ist frei. Aber trotzdem nicht Herr seines Schicksals.

Die Botschaft der Träume lockt dennoch. Es kann sicher tröstlich sein, sich in einer scheinbar geordneten, klar umrissenen Realität zu bewegen. Alles ist, wie es ist. Und alles wird kommen, wie es immer kommt. Es gibt nur diese eine Möglichkeit. Es sei denn, man lässt Millionen andere zu und wagt den Schritt ins Unbekannte.

Text: Tom Theunissen


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